„Ich kann nicht singen!“ Das ist beliebteste Ausrede, wenn es darum geht, sich vor dem gemeinsamen Ständchen für das Geburtstagskind der Familie zu drücken. Dass dies wirklich nur eine Ausrede ist, beweist sei Beginn des Jahres einmal im Monat der „Ich-kann-nicht-singen“-Chor im Berliner Radialsystem, beim Festival Chor@Berlin im Januar war dieser Programmpunkt praktisch ausgebucht gewesen. Und auch beim Workshop “ChorCreativ – singen ohne Noten” auf der chor.com konnte sich dessen Erfinder Michael Betzner-Brandt nicht über mangelnden Zuspruch beklagen.
Vier einfache Blätter liegen in der Mitte des Raumes, doch Noten sind auf ihnen nicht zu finden. „Solo“ oder „Lange Töne“ steht auf den Zetteln. Die Teilnehmer haben zuvor Melodien für sich erfunden, und während sie sich in Bewegung setzen, singen sie diese, je nach Impuls des Dozenten vor sich hin. Wer dabei in den Bereich des Solos gerät, singt sein Solo. Wer bei den langen Tönen zu stehen kommt, hält seinen Ton – zumindest so lange, bis er sich wieder in Bewegung setzt. Auch Zuhören lohnt sich, schließlich handelt es sich bei dem Workshop um ein Weiterbildungsangebot für bereits aktive Sängerinnen und Sänger.
Auf einer Fachmesse fürs Singen wird man selbstverständlich wohl kaum jemanden treffen, der nicht singen kann. Was sich dann auch im Workshop bewahrheitete. Die Methoden aber, die hier vermittelt wurden, eröffnen für die Proben im normalen Choralltag neue Möglichkeiten, an die Materie heranzugehen. Statt des gemeinsamen Einsingens kommunizieren die Sänger, im ganzen Raum verteilt, singend miteinander: Auf den anderen zu hören und dabei teilweise die Melodien zu adaptieren – eine etwas andere Art der Auflockerung. Zudem: Noten lesen braucht man für diesen Chor gar nicht können, was sicherlich die Schwellenangst bei Menschen senkt, die noch nie Kontakt mit einem Chor hatten. Insofern: Es gibt keine Nichtsinger. Allenfalls Singmuffel.