Feb 262017
 

Von Marie Schilp

Der letzte Tag bei Chor@Berlin 2017 hielt im Radialsystem V nicht nur viele musikalische Begegnungen bereit, sondern auch vier thematisch sehr unterschiedliche Workshops sowie ein außergewöhnliches Abschlusskonzert mit experimentellem Charakter – hier ist unser Rückblick.

Den Anfang des letzten Tages bei Chor@Berlin 2017 machten Felix Powroslo (Bühnen- und Stimmcoaching), Andrea Riedl (Psychotherapie) und Franziska Riedl (Kulturmanagement) mit ihrem Seminar zum Thema “Das Musizieren und die Emotionen”. Mit Beispielübungen zu Präsenz, Empathie und Resonanz zeigten sie Wege auf, wie Emotionen Teil der Konzertpräsentation werden können (nähere Informationen folgen in einem separaten Blogbeitrag).

Der Workshop-Chor testet die neuen Erkenntnisse direkt mit einem Lied

Auch Winnie Brückner, Dozentin für Jazzchor in Weimar und Mitglied beim Frauenquartett niniwe, zeigte in ihrem Workshop “Klang, Intonation und Blending im Ensemble – das Lichtenberger® Modell”, wie das Konzerterlebnis verbessert werden kann. Allerdings setzt sie nicht bei den Emotionen an, sondern beim Körper selbst. Das Lichtenberger® Modell geht auf das Ehepaar Gisela und Walter Rohmert zurück, das 1982 das Lichtenberger Institut gründete, um mithilfe von Gesangs- und Instrumentalforschung Erkenntnisse für die Ausübung von Musik zu erlangen. Aus Messreihen, die sich teilweise über Jahre hinweg erstreckten, ergaben sich schließlich praktische Tipps für Sängerinnen und Sänger.

Die TeilnehmerInnen spüren der natürlichen Resonanz ihrer eigenen Stimme nach

Die TeilnehmerInnen spüren der natürlichen Resonanz ihrer eigenen Stimme nach

Im Mittelpunkt der Methode steht der bewusste und entspannte Einsatz der körperlichen Werkzeuge wie Stimmlippen, Kehlkopf und der Resonanzraum des Brustkorbs. Ziel ist es, dem einengenden Stress des Leistungsdrucks vorzubeugen, der bei vielen Menschen einsetzt, sobald es ans Singen geht. Mithilfe einiger einfacher Übungen zeigte Winnie Brückner, wie der bewusste Einsatz des Körpers beim Singen die Klangqualität steigert. Interessanterweise hielt dieser Effekt auch an, wenn der Workshop-Chor direkt nach der Übung ein Stück vom Blatt sang – allein mit der Erinnerung daran, was sich im Körper bei der vorangegangenen Übung verändert hatte.

Der Ich-kann-nicht-singen-Chor mit Leonard Cohens "Hallelujah"

Der Ich-kann-nicht-singen-Chor mit Leonard Cohens “Hallelujah”

Zeitgleich zum Workshop von Winnie Brückner traf sich in der Halle des Radialsystem V der Ich-kann-nicht-singen-Chor von Michael Betzner-Brandt. Mittlerweile eine feste Instanz bei Chor@Berlin, ist das Format eine Mischung aus Workshop und Konzert: Die TeilnehmerInnen wurden von Betzner-Brandt und seiner Kollegin Tjeda Efken zum Singen einfacher Circle Songs und Warm-ups animiert und waren sich selbst gleichzeitig das Publikum. Wer schon immer singen wollte, aber sich nie getraut hat, konnte hier alle Hemmungen vergessen und ohne Scheu vor schwerer Literatur oder falschen Tönen seine Stimme testen. Dabei standen nicht nur Klassiker wie “Hallelujah” von Songwriter-Legende Leonard Cohen auf dem Plan, sondern auch von Michael Betzner-Brandt selbst entwickelte Songs wie “Das ist eine Probe!”. 2011 bei der ersten Ausgabe von Chor@Berlin ins Leben gerufen, findet sich der Ich-kann-nicht-singen-Chor mittlerweile regelmäßig in der Urania Berlin zusammen.

Der letzte Workshop von Chor@Berlin 2017 stellte ebenfalls einen Chor in den Mittelpunkt: den Begegnungschor aus Berlin. Unter der Leitung seines Dirigenten Bastian Holze gab das Ensemble einen Einblick in seine musikalische Arbeit und beantwortete Fragen zum hochaktuellen Thema “Singen mit Geflüchteten”. Seit Oktober 2015 gibt es den Verein, der sich damals auf Initiative von “Leadership Berlin – Netzwerk Verantwortung e. V.” in Kooperation mit dem Chorverband Berlin gründete. Wie man Mitglied werden kann? Das geht nicht allein. Nur als Tandem können ein Altberliner und ein Neuberliner beim Begegnungschor einsteigen – so bleibt gewährleistet, dass die Balance beider Gruppen stetig konstant bleibt.

Der Begegnungschor ist immer mit eigener Band unterwegs

Der Begegnungschor ist immer mit eigener Band unterwegs

Der Begegnungschor wird gut angenommen: 40 bis 80 SängerInnen aus den verschiedensten Erdteilen kommen jeden Mittwoch in der Evangelischen Schule Berlin Zentrum zusammen, um – begleitet von einer Band – Lieder aus einem Dutzend Sprachen zu singen. “Wir wollten dem Chor unsere deutsche Kultur nicht auferlegen”, sagt Bastian Holze. Deutschsprachige Lieder wie “Die Gedanken sind frei” sind zwar Teil des Programms, stellen aber nicht die Mehrheit des Repertoires. Authentische Aussprache ist Holze dabei immer wichtig, egal in welcher Sprache der Chor singt. Der Text wird zudem für alle Chormitglieder übersetzt, damit jeder weiß, was er da gerade singt.

Schließlich treibt den Chorleiter bei jeder Songauswahl die Frage um: “Ist das Lied auch für alle im Chor vertretbar?” Bei so vielen verschiedenen Kulturen, die sich in diesem Ensemble begegnen, ist Fingerspitzengefühl gefragt. Das zahlt sich allerdings aus: Die Gemeinschaft hält auch über die Grenzen der Chorprobe hinaus, bei Wohnungssuche und Umzug ist gleich der halbe Chor zur Stelle – ein wichtiger Halt für die Mitglieder. Daher arbeitet der Begegnungschor auch eng mit anderen Berliner Institutionen zusammen und hilft bei der Aufstellung ähnlicher Projekte.

Rupert Huber und das Ensemble Spinario mit der Performance "Psychopompos"

Rupert Huber und das Ensemble Spinario mit der Performance “Psychopompos”

Zum Abschluss von Chor@Berlin lud Komponist und Chorleiter Rupert Huber mit seinem Ensemble Spinario zum Konzert mit dem geheimnisvollen Namen “Psychopompos”. Hinter dem griechischen Wort für “Seelenführer” verbirgt sich die Nachstellung eines Rituals, das Kontakt zu dieser – aus Kulturen vorrationalistischer Gesellschaften bekannten – Figur herstellen soll, welche die Seele nach dem Tod eines Menschen sicher ins Jenseits geleitet. Mit Klangschalen, Trommeln, Gesang und Orgel gestaltete das Ensemble nach einer Komposition von Rupert Huber einen intensiven Klangteppich. Intensiv war die Performance jedoch nicht nur als Hörerlebnis für das Publikum, sondern auch für die Mitwirkenden. Mehr als einmal am Tag könne man diese Performance nicht proben, hieß es im anschließenden Austausch mit den KünstlerInnen – zu tiefgehend und emotional sei die Erfahrung. Schließlich handelt es sich bei “Psychopompos” nicht um ein durchkomponiertes Werk, es gibt auch Freiraum für Improvisation und spontane musikalische und gesangliche Äußerungen, die – glaubt man dem Ritual – im direkten Austausch mit dem Seelenführer entstehen.

Begegnungen müssen bewusst gesucht werden – so könnte das Motto des Abschlusstages der diesjährigen Ausgabe von Chor@Berlin lauten: Begegnungen mit Körper und Geist beziehungsweise Emotionen, der eigenen Stimme, fremden Menschen oder auch dem Seelenführer. In unserer heutigen Zeit, in der Ab- und Ausgrenzung im Fokus steht, dürfte nichts wichtiger sein. Denn Singen – so zeigt sich immer wieder – verbindet.