Sep 262017
 

Demografischer Wandel, Nachwuchssorgen, Überalterung – in Diskussionen um die Zukunft der Chorszene sind diese Schlagworte immer wieder zu hören. Altersprozesse müssen aber nicht als Nachteil empfunden werden. In einer Präsentation auf der Bühne im Goldsaal und mehreren Workshops zum Thema alternde Stimmen wurden auf der chor.com konkrete Lösungsansätze vorgestellt.

So ging beispielsweise Jutta Michel-Becher in ihrem Workshop „Silberklang: Ein Leben lang!“ der Frage nach, was man bei der Gründung und Organisation eines Seniorenchores beachten sollte. Die Kirchenmusikerin und Musikpädagogin aus München leitet einen Seniorenchor im Augustinum München-Neufriedenheim mit rund 40 SängerInnen und einer Altersspannweite bis 102 Jahre. „SeniorInnen haben viele ‚Vorteile‘“, sagte Michel-Becher schmunzelnd. „Sie haben viel Freizeit, bringen oftmals langjährige Chorerfahrung mit und sind auf der Suche nach neuen Herausforderungen und natürlich auch nach Kontakt zu Gleichgesinnten.“ Am leichtesten ließe sich die Gründung eines Seniorenchores über einen Träger (Altenpflegeheim, Pfarrei, Verein etc.) realisieren, der könne Räume stellen, bei Organisations- und Versicherungsfragen helfen und vielleicht sogar das Gehalt für die Chorleitung übernehmen.

Wurde der Chor erfolgreich gegründet, folgt die Frage nach dem Repertoire. Die Seniorenstimme ist Veränderungen unterworfen: Stimmumfang, Stimmbeweglichkeit, Atemvolumen und Sehleistung sind geringer, ein schwächeres Gehör zieht Intonationsschwierigkeiten nach sich, Registerübergänge sind schwerer zu meistern. Viele Sätze tragen diesen Voraussetzungen mit kleinem Druck, extremen Stimmlagen oder vielen Einzelstimmen keine Rechnung. Jutta Michel-Becher schrieb ihrem Chor daher eigene, dreistimmige Arrangements auf den Leib, die gemeinsam mit Stimmbildungstipps in ihrem neuen Buch „Silberklang“ (Schott Music) erscheinen. Manchmal, sagte sie, sei es gar nicht so einfach, die Balance zu finden zwischen zu leicht und zu schwer: „Fordern ist gut, beispielsweise mit Mehrstimmigkeit, aber man muss aufpassen, den Chor nicht zu überfordern. Vor- und Zwischenspiele mit dem Klavier oder der Gitarre sind essentiell, damit die Sänger einmal durchatmen können und nicht in Stress geraten.“

Diakoniechor Hilden beim Freitreppenkonzert auf der chor.com

Überhaupt sei es wichtig, Geduld zu haben, Zeitdruck sei in der Probenarbeit mit einem Seniorenchor vollkommen fehl am Platz. Vielmehr müsse für Dinge wie ankommen oder Noten aufschlagen mehr Zeit eingeplant werden. Hierzu zählt auch die Rücksicht auf eingeschränkte Mobilität, vor allem bei der Planung eines Auftritts. „Wir haben einmal einen Auftritt abgesagt, weil wir die Info bekamen, unsere Chormitglieder in Rollstühlen könnten nicht teilnehmen“, berichtete Michel-Becher. „Das geht einfach nicht.“

Auch Brigitte Rauscher plädierte in ihrem Workshop „Von der Schönheit der faltigen Stimme“ für Rücksichtnahme in Bezug auf gute Raumbedingungen (Barrierefreiheit, helles Licht) und eine längerfristige Zeitplanung in den Proben. Mit ihrem Experimentalchor Alte Stimmen Troisdorf geht die Kirchenmusikdirektorin beim Punkt Repertoire aber gänzlich andere Wege. Bei ihrem Ensemble steht die Freude am Experimentieren im Vordergrund, die Entwicklung eigener Themen und musikalischer Präsentationsformen. Bekannte Melodien werden verfremdet, vermischt mit Elementen der Neuen Musik, Collagen, Theater und Improvisation. Das verlangt von Chor und Chorleiterin ein großes Maß an Offenheit: „Es bedarf viel Vertrauen, da wir – anders als Chöre mit festgelegtem Repertoire – nicht wissen, was am Ende dabei herauskommt.“

Bei den Arrangements gibt es schriftlich festgelegte Absprachen, die den Rahmen des Stücks abstecken, der Rest ist improvisiert. Die meisten Chormitglieder singen auswendig – und freuen sich über die Herausforderung. „Für uns ist es ein Glücksfall, dass Frau Rauscher uns anspornt, auswendig zu singen“, betonte ein Chormitglied auf Nachfrage. „Aber wenn einer das nicht kann, dann ist das auch in Ordnung. Wir werden motiviert, das zu leisten, was jedem Einzelnen möglich ist.“

Workshopkonzert mit dem Experimentalchor Alte Stimmen Troisdorf

Der Experimentalchor präsentierte im Workshop einige Lieder aus seinem Repertoire, unter anderem Bearbeitungen von Franz Schuberts „Winterreise“ (s. unser Video-Best-of) und Hildegard Knefs „Für mich soll’s rote Rosen regnen“, und verblüffte mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Augenzwinkern, Respekt vor dem Original und Parodie. „Ich habe schon mit vielen Chören gearbeitet“, sagte Brigitte Rauscher. „Aber keinem anderen fällt das Experimentieren und Improvisieren so leicht wie den Alten Stimmen.“

Diese Offenheit musste sich der Chor zunächst hart erarbeiten, stetig motiviert durch seine Leiterin, die – so sagte sie bei der öffentlichen Diskussion zu „Perspektiven für das Singen im Alter“ – die veränderten Voraussetzungen der gealterten Stimme nicht als Defizit auffasst: „Ich empfinde sie vielmehr als Basis für neue Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme.“ An der Diskussion beteiligt waren neben Moderator Haino Rindler von Deutschlandfunk Kultur zudem Kai Koch (Initiator der Plattform singen-im-alter.de, Mitherausgeber des im Bosse-Verlag erscheinenden Seniorenchorbuchs „Nun öffnet alle Tore weit“) und Michael Betzner-Brandt (Leiter des 60+-Rock-Pop-Chors High Fossility, Herausgeber des gleichnamigen Chorbuchs im Bosse-Verlag).

Gemeinsam plädierten sie unter anderem für einen stärkeren Ausbau des Themas Singen im Alter in der Ausbildung von ChorleiterInnen und MusikpädagogInnen. „Es ist schade, dass dieses Element dort kaum stattfindet“, so Kai Koch. „Da müsste es mehr Angebote geben.“ Denn die speziellen Anforderungen der Seniorenstimme bedürften zwar einer sensiblen Förderung durch die Chorleitung, aber die Sängerinnen und Sänger hätten im dritten Lebensabschnitt stimmlich noch einiges zu bieten, wie Michael Betzner-Brandt betonte: „Joe Cocker und Tom Waits wären mit ihren Stimmen in einem klassischen Chor wahrscheinlich nicht gut aufgehoben. Aber ihre Stimmfarbe hat einfach was, sie können tolle Dinge damit machen und eine große Bandbreite an Emotionen ausdrücken.“